Wohin entwickelt sich unsere Mobilität?
Am ersten Sonntag im April wurden wieder alle Mitglieder der Ortsgruppe der IGBCE Marburg zur Mitgliederversammlung mit einem gemeinsamen Brunch eingeladen.
In dem Haus der Afföllergemeinde kümmerten sich der Caterer Martin Sommer und sein Team um unser leibliches Wohl. Zu Begin des Vortrages gab es ein reichhaltiges Frühstücksbuffet. Zum Abschluss der Veranstaltung wurde der Jahreszeit entsprechend Rindfleisch mit grüner Sauce, alternativ Hähnchen in Tomatensauce, Erdbeer- und Herrencreme als Nachtisch aufgetischt; im Hintergrund liefen in Endlosschleife die Dias unserer Brüssel-Reise
Unser Dozent, der Verkehrsexperte Prof. Dr. Heiner Monheim, steckte voller Tatendrang. Er fing bereits mit seinen Ausführungen an, als das Büffet eröffnet wurde. Somit wurden unsere formellen Punkte der Mitgliederversammlung, wie dem Kassenbericht für das Jahr 2018, dem Rück- und Ausblick unserer Aktivitäten, zwischen die Ausführungen von Herrn Prof. Heiner Monheim eingebaut. Aufgrund des Zwischenapplauses und der zahlreichen Diskussionen erschien es uns, dass sowohl das Thema, als auch der redegewandte Dozent seinen langen Vortrag in einen sehr kurzweiligen Bericht über mögliche Lösungsansätze der Verkehrsproblematik. verwandelte.
In den 1950er Jahren sei das Fahrrad eines der dominierenden Verkehrsmittel gewesen. Im Ruhrgebiet überfluteten zu den Schichtenden Fahrräder die Straßen. Der Radverkehrsanteil lag bei 35%, selbst in hügligen oder gar bergigen Regionen.
Generell sei der meiste Verkehr Nahverkehr, resümierte er. Viele Autofahrten seien kürzer als 5km – daraus ergäbe sich, dass ein Großteil der Fahrten ohne großen Zeitverlust per Pedes oder mit dem Rad ersetzt werden könnten.
Bei Topographien wie in Marburg, wird heutzutage den „Bergen“ durch die Pedelecs der Schrecken genommen. So sind für normaltrainierte Menschen Berge, aber auch größere Distanzen möglich.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der damit verbundenen Motorisierung lag der Radverkehrsanteil Mitte der 80er Jahr nur noch bei 3%. Dies spiegelt sich auch in den Infrastrukturausgaben wieder….
Während in den 1950er Jahren die Ausgaben für Schienen- und Straßenverkehr noch ausgeglichen waren, investiert der Staat in die Infrastruktur für Autos heute jedes Jahr Milliarden – für die Bahn seit der Privatisierung jedoch immer weniger. Große Handelsketten wie Ikea, siedeln sich mittlerweile in der Nähe von Autobahnausfahrten an. Mittlerweile soll Ikea bereits die ersten ÖPNV Anschlüsse finanziert haben.
Jobtickets sind in Deutschland aufgrund der unterschiedlichen Tarifzonen innerhalb eines Verkehrsverbundes kompliziert. Ein Regioticket, dass für alle Zonen innerhalb eines Verkehrsverbundes gilt, sei deutlich komfortabler – ÖPNV nutzen ohne nachzudenken.
Heiner Monheim stellte die Frage in den Raum, warum nicht große Organisationen, wie beispielsweise die Kirchen oder die Wirtschaft, Ihre Macht nutzen würden, um ähnlich wie bei dem Semesterticket, Rabatte vom bis zu 80% für ein Regionalticket auszuhandeln. Das Ticket müsste, wie beim Semesterticket, jeder erwerben.
Selbst wenn man sich die Kosten und Subventionen im motorisierten Individualverkehr anschaut, frage man sich, warum kostenloser ÖPNV nicht möglich sei. Ein PKW sei im Schnitt mit 1,1 Personen besetzt und wird mit Diesel-, Dienstwagenprivileg zusätzlich zu den Infrastrukturmaßnahmen gefördert.
Der ÖPNV wird von vielen Menschen als sehr kostenintensiv empfunden, er wird als „Defizitbringer“ stigmatisiert. 1 Euro Kosten werden dabei empfunden wie 1,30 Euro, beim Auto ist es das Einschätzung genau umgekehrt. Man beurteilt die Kosten geringer, als sie in Wahrheit sind.
Wie könnte man den Wegfall der Werksbusse (bis Mitte der 90er Jahre auch bei Behring) kompensieren?
Urbane Seilbanen, wie kürzlich in der Oberhessischen Presse diskutiert, wären auch eine Möglichkeit. Ein solches Verkehrsmittel wäre schnell und preiswert umzusetzen, gerade im Vergleich zu einem Behring-Tunnel. Durch eine gute Taktung der Gondeln entfällt das Gefühl des Umsteigens und man könnte vom Afföllergelände via Park und Ride direkt zu den Behringwerken kommen (Haltstellen im Hauptwerk und Görzhausen vorausgesetzt).
Die Problematik sieht Herr Monheim in erster Linie in den Köpfen der Menschen, die sich außerhalb der Alpen keine Seilbahnen vorstellen könnten. Wir alle müssten für neue Wege in den Verkehrsfragen durch Alternativen motiviert werden. Eine weitere Problematik sei die Querung über bebaute Gebieten, welches zu Anwohnerprotesten führen könne. Gerade die Stadtautobahn wäre als Pilotprojekt für eine schnelle Nord-Süd-Verbindung ohne Stau prädestiniert.
Eine andere Möglichkeit wäre die Einführung von Mittfahrzentralen via Smartphone-App -z.B.: „Hin und Weg“, in Kombination mit einem Job-, oder Regioticket. Nach Einschätzung von Prof. Monheim könnte so die Hälfte des Pendlerverkehrs eingespart werden. Solche organisierten Mitfahrgelegenheiten via App bieten auch, durch die Registrierung von „Tramper“ und Autofahrer eine gewisse Sicherheit.
Bei einem Blick über die Landesgrenzen hinweg ging Heiner Monheim auf Bregenz, die Niederlande und Frankreich ein: In Frankreich ist eine Nahverkehrsabgabe für Betriebe ab 9 Personen üblich. In Bregenz wird durch den ÖPNV jede Milchkanne bedient. Kleine Ortschaften werden mit Minibussen, die an vielen Haltestellen halten bedient. In Holland seien Fahrradbügel, Spinde und Duschen für Mitarbeiter verpflichtend, ähnlich wie bei uns eine Gewisse Anzahl von KFZ-Stellplätzen, je nach Betriebsgröße vorgeschrieben sind.
Und Marburg? Im Radwegeverkehrsplan ist nur eine von 385 Seiten dem betrieblichen Mobilitäts-Management gewidmet. Bei uns werden KFZ-Stellplätze für die meisten Pendler umsonst zur Verfügung gestellt (Ausnahme UKGM) -was bekommen Pendler des ÖPNV’s, Radfahrer, oder Fußgänger als Gegenleistung?
Nach dem gemeinsamen Mittagessen endete die Veranstaltung.
Jens Thomas
April 2019